Erinnerungen deutscher Kriegsgefangener an das Lager Elsterhorst |
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Quelle: |
Erinnerungen von Herrn Ernst Fleischhack, Detmold |
erschienen in "Das Lager Elsterhorst" von Karl-Heinz Hempel, Neue Hoyerswerdaer Geschichtshefte Nr. 2 (1999) | |
"Auf einer von regulären Zügen sonst wohl noch nicht wieder befahrenen Strecke rollten wir am Freitag morgen, d. 24. August, auf Hoyerswerda zu und in dessen Bahnhof ein. Wieder einmal hieß es, hier sei Endstation. Sollte es diesmal denn wirklich zutreffen? Noch zweifelten wir. Ganze Kolonnen ehemaliger, nun aber frisch entlassener Plennys bestätigten uns jedoch bald das tatsächliche Vorhandensein eines Entlassungslagers in unmittelbarer Nähe der Stadt. Offensichtlich war Hoyerswerda spätestens seit Berlin schon unser Bestimmungsort gewesen, und nur ein Mißverständnis zwischen Russen und deutschen Bahnbehörden mußte uns für zwei Tage nach Bischofswerda fehlgeleitet haben. In aller Eile bekamen wir nun unsere Tagesrationen zugeworfen. Dann fuhr der Zug auf einem nach Petershain abzweigenden Nebengleis noch ein gutes Stück über den Bahnhofsbereich hinaus. Im Feldgelände auf freier Strecke erfolgte dann unser Ausstieg. Die geräumten Wagen wurden sogleich verschlossen. Als Abschiedsgeschenk der Transportleitung erhielt jeder von uns am Produktenwagen noch eine Schütte Mehl in die Büchse. Der "Briefträger" und sein Begleitstab erwiesen sich als Freundlichkeit und Großherzigkeit in Person an diesem Tage. Die Erleichterung darüber, das Ziel der langen Fahrt nun endlich vor sich und alle Mannen noch so einigermaßen beisammen zu haben, war ihnen sichtlich abzuspüren. Noch einmal ertönte ihr Kommandopfiff zum Antreten, noch einmal wurde genau durchgezählt, doch dann ohne Tritt und ohne hastige Antreiberei auf unbefestigtem Wege abmarschiert, einem schon sichtbaren, nicht allzu weit entfernt liegenden kasernenartigen Gebäudekomplex entgegen. Dieser entpuppte sich beim Näherkommen als eine weiträumige streng gegliederte und aus 40 Baracken bestehende, von Sport- Gras- und Baumflächen umgebene Lageranlage. Als wir das Haupttor passiert hatten, unterstanden wir bereits nicht mehr der bisherigen Kommandogewalt. Als Ordnungskräfte, selbstverständlich unter sowjetischer Verwaltungshoheit, fungierten hier ausschließlich ehemalige deutsche Landser. Sie dirigierten uns zunächst in einen leerstehenden Flügel mit mehreren Zimmern, auf die wir uns nach Belieben verteilen konnten. Man hätte es sich hier relativ behaglich einrichten können. Ein paar Bäume standen vor den Fenstern. Zwischen ihnen wies der Blick hinaus auf weite sonnige Feldflächen. Allein wir kamen hier nicht einmal zu einem kürzeren Verweilen. Sogleich beorderte uns ein Ruf zur Waschbaracke. Dort sollten wir uns einem Brausebad unterziehen. Ich muß gestehen, während dieser Prozedur kaum nennenswert mit Wasser in Berührung gekommen zu sein. So schnell hetzte man uns hindurch. Danach warteten vier Bedienstete schon mit großer Ungeduld, um unsere Personalangaben für die Entlassungspapiere entgegenzunehmen. Obwohl vor jedem Schalter eine lange Warteschlange stand, wickelte sich alles in rasender Geschwindigkeit ab. Bald war auch ich an der Reihe. Ich hatte den Eindruck, der Schreiber hörte nur mit halbem Ohr auf meine Antworten. Am Küchenschalter gab es für jeden bereits Abgefertigten einen Schlag Graupensuppe zu fassen, anschließend 500 g Russenbrot. Das uns zugereichte Essen war von solider Beschaffenheit, doch mußte die Durcheinanderfresserei und -trinkerei vom Vortag in Bischofswerda meinen noch immer labilen Darmtrakt gehörig überfordert haben, so daß mir nichts anderes übrig blieb, als immer wieder ein bestimmtes, in diesem grundsoliden deutschen Baukomplex, gemessen an russischen Zuständen, aber ungewohnt kultiviert anmutendes Örtchen aufzusuchen. Ansonsten verbrachte ich den Nachmittag mit meinen Schicksalsgenossen teils umherwandernd im Innenbereich des Lagers, teils wartend auf der schon erwähnten Stube. Wie einigen anderen, war es auch mir gelungen, einen kleinen Sack aufzutreiben, um das empfangene Mehl, Brot sowie mögliche weitere Wegzehrung darin verstauen zu können. Gegen 18 Uhr vernahmen wir den Befehl zum Antreten auf der in der Mitte des Lagers befindlichen platzartigen Erweiterung. Bei der folgenden Zählung ging es noch einmal recht energisch zu nach echt deutschem Kasernenhofgebaren. Eine gut dreiviertelstündige Wartezeit folgte, während derer sich aber entgegen der Ankündigung kein einziger sowjetischer Uniformträger blicken ließ. Dann hieß es ganz schlicht: "Abmarsch!" Streng ausgerichtet in Sechserreihen schritten wir durch das Lagertor. Eine kleine, sich aus Angehörigen des deutschen Lagerpersonals zusammensetzende Musikkapelle intonierte dazu etwas unbeholfen, von uns aber gern entgegengenommen: "In der Heimat, in der Heimat, da gibt' sein Wiederseh' n." Draußen vor dem Tor vollführte ein Schausteller- oder Varietegehilfe zur zusätzlichen Stimmungsaufheiterung noch ein paar akrobatische Mätzchen. Zuerst imitierte er ein gackerndes und fortflatterndes Huhn, dann einen kollernden Puter.
Es war schon ein recht eigenartiger Zustand, in dem wir uns augenblicklich befanden: Das Entlassungslager entschwand mehr und mehr unseren Blicken, doch noch hatten wir kein Papier in der Hand, das uns die Entlassung zweifelsfrei bestätigte. Wir sollten es aber, so war uns vor dem Abmarsch verheißen worden, noch im Laufe dieses Abends in dem als Nachtquartier vorgesehenen Hoyerswerdaer Schützenhaus überreicht bekommen. Ein Lagerbediensteter führte unsere Kolonne an. Zunächst passierten wir das Dörfchen Elsterhorst (Nardt), danach wandten wir uns in südöstlicher Richtung dem Stadtkern von Hoyerswerda entgegen. Die geschlossene Marschordnung galt nun als aufgehoben, sehr zu meiner Erleichterung; denn mein verstauchter und dies noch immer spüren lassender Fuß schaffte zügiges Durchmarschieren bei weitem noch nicht. Außerdem boten Pantoffeln mit hölzerner Sohle trotz ihrer Neuheit keinen Ersatz für Marschschuhe. Die bis zum Zielpunkt zu bewältigende Strecke betrug immerhin gut vier Kilometer. Sanft strich der sommerliche Abendwind über die Feldregion, die wir durchschritten. Kleine Gehölze verliehen der weiten Fläche ein paar malerische dunkle Tupfer. Liebend gern hätte ich mich all dem, was mir begegnete, an die Brust werfen mögen, so heftig wogten entsprechende Gefühlsregungen in mir. Und doch blieb im Augenblick nichts anderes übrig, als alle Kraft zusammenzunehmen und zu versuchen, den Anschluß an das Gros nicht völlig zu verlieren.
Gegen Ende des Marsches war die Verbindung nach meinen Erinnerungen tatsächlich noch abgerissen, doch gab es noch eine ganze Reihe anderer, die gleich mir, nicht so zügig voranzukommen vermocht hatten. In Hoyerswerda, das sich damals als ein sehr bescheidenes Landstädtchen darbot, fragten wir uns mit Erfolg durch. Ein zum Personal des Schützenhauses (später Kastanienhof) Gehörender öffnete den Wartenden den geräumigen Ballsaal. Dessen gesamte Ausstattung, beginnend mit den verzierten Säulen über die braun getäfelten Seitenwände, den schon etwas abgenutzten Parkettfußboden in der Mitte bis zum erhöhten Podium für die zum Tanze aufspielende Musikkapelle, wehte dem Eintretenden ein Hauch verklungener kleinstädtischer Schwof- und Walzerseeligkeit entgegen. Nun als Nachtquartier für abgerissene und zerlumpte Plennys zu dienen, stellte schon eine gehörige Portion Zweckentfremdung dar. Einige Zeit später trafen zwei Lagerbedienstete ein. In ihrer Mappe steckten unsere ausgefertigten Entlassungspapiere. Sie begannen mit der Namensverlesung. Jeder Aufgerufene mußte sich melden, vortreten und seinen Schein entgegennehmen. Als auf den Namen "Fleimer, Ernst geb. 1926" zweimal keiner sich gerührt hatte, deuchte mir, wohl der Gemeinte sein zu müssen. "Na, wohl schon eingenickt, was?" fuhr mich der Verlesende an.
Es war der letzte mir zuteil gewordene militärische bzw. postmilitärische Anranzer meines Lebens. Der Schreiber am Vormittag hatte die zweite Silbe meines Familiennamens Fleischhack in der Hektik offensichtlich nicht mitbekommen und diesen ganz einfach in "Fleischer" abgewandelt, der Verlesende das geschriebene russische "sch" zudem noch als "m" gedeutet. So war der völlig anders lautende Namensaufruf entstanden. An sich hätte ich auf Berichtigung dringen müssen, doch fürchtete ich, solch ein Einspruch könnte meine Entlassung nur noch hinauszögern. Wohlweislich hüllte ich mich deshalb in Schweigen. Insgeheim hoffte ich, auf dem Waldenburger Amt würde man bei der Anmeldung die kyrillischen Buchstaben eh kaum deuten und mich als legitimen Sohn meiner Eltern schon wiedererkennen können. Nun gab es nur noch eins: als entlassener vormaliger Soldat und bis jetziger Plenny dem nächsten Morgen entgegenzuschlummern. Allein an Schlaf war kaum zu denken. Die Seitenbeleuchtung blieb immer eingeschaltet, um nächtliche Toilettenbesucher nicht ins Stolpern geraten zu lassen. Außerdem wogte eine viel zu große Spannung in mir vor all dem, das nun folgen sollte und das ich, allein auf mich gestellt, noch zu besorgen haben würde.“ |
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