Erinnerungen eines Lagerarztes über die Zustände im Umsiedlerlager Elsterhorst

 
Quelle: Stadtmuseum Hoyerswerda: Akte 810­ Bericht des Lagerarztes Dr. R. an die Landesverwaltung Sachsen S. 33 ff.
  erschienen in "Das Lager Elsterhorst" von Karl-Heinz Hempel, Neue Hoyerswerdaer Geschichtshefte Nr. 2 (1999) 
 

"Nach gründlicher Überprüfung sind wir zu dem Schluß gekommen, daß es ärztlicherseits nicht mehr verantwortet werden kann, daß unter den derzeitig gegebenen Verhältnissen das Lager Elsterhorst in der augenblicklichen Form als Umsiedlerlager fortgeführt werden kann. Wir halten es vielmehr für unsere ärztliche Pflicht darauf hinzuweisen, daß die Verhältnisse des Lagers Elsterhorst geeignet sind, die Gesundheit vieler Menschen zu gefährden. Viele Besichtigungen haben bereits stattgefunden. Von allen Seiten wurde uns Abhilfe zugesichert. Das, was bisher geschehen ist, ist aber so wenig ausreichend, daß damit die weiter unten aufgeführten Mängel nicht beseitigt sind. Innere und äußere Schwierigkeiten führen zu dem Schluß, daß eine Aufrechterhaltung des Lagers, wenn die aufgezeigten Mängel nicht beseitigt werden, unmöglich ist. Dieser Bericht stellt Tatsachen dar, wie sie wirklich sind.

Die Schwierigkeiten beginnen bereits beim Eintreffen eines Transportes. Infolge der fortgeschrittenen Jahreszeit ist mit niedrigen Temperaturen, unter Umständen unter Null, zu rechnen. Die Stelle, an der ein Transportzug ankommt, ist auf völlig freiem Gelände gelegen. Die Leute werden im Freien ausgeladen und warten, wie die Erfahrung gelehrt hat, mit ihrem Gepäck bis zu sechs und mehr Stunden auf ihren Abtransport. Wartehallen oder gar ein Bahnhof mit Sitzgelegenheiten stehen nicht zur Verfügung. Regen und Schnee werden die mit einem Transport angekommenen Umsiedler stundenlangen Erkältungen aussetzen. Das mitgebrachte Gepäck wird durchnäßt werden.

Ein Kontakt zwischen jenen Personen, die bereits durch die Quarantäne gegangen sind, und denen, die der Quarantäne erst zugeführt werden sollen, ist nicht immer zu vermeiden. Unter Umständen wird dadurch der Sinn der Quarantäne im Lager hinfällig.

Die Unterbringung im Lager vor der Entlausung ist eine unzureichende. Infolge der ungenügenden Kapazitäten der einzelnen Entlausungsanstalten ist es unvermeidbar, daß die Leute lange Zeit, besonders im Hauptlager, vor der Entlausung im Freien stehen müssen. Auch dadurch wird Erkältungskrankheiten Vorschub geleistet. Im Vergleich zu den Verhältnissen im Sommer und zu einem Zeitpunkt als das Lager noch bzw. nur Heimkehrerlager war, sind die Gegebenheiten jetzt wesentlich andere. Die Heimkehrer setzten sich aus jüngeren und mittleren Jahrgängen zusammen und vor allen Dingen aus Menschen, die gegen Witterungsschäden entsprechend abgehärtet waren. Jetzt kommen Umsiedler, also Familien mit Kindern, Kleinkinder und Säuglinge, altersgebrechliche Menschen. Zum Teil werden ganze Siechen- und Blindenheime umquartiert. Das sind Menschen, die den Gefahren einer ungünsti­gen Witterung einen wesentlich geringeren Widerstand entgegensetzten können. Mit dem Eintritt der kühleren und unbeständigen Jahreszeit taucht das Gespenst des Fleckfiebers auf. Aus diesem Grunde ist ein tadelloser Funktionszustand der Entlausungsanstalten eine unbedingt geforderte Voraussetzung. Es muß jetzt gefordert werden, daß Decken, Bettwäsche und auch das Gepäck einer gründlichen Heißentlausung unterzogen werden, da unseres Erachtens eine Kaltentlausung unzureichend ist.

Bei der Entlausung steht keine Seife zur Verfügung. Das Duschen nur mit warmem Wasser ist ungenügend. Schwimm-, Ton- oder flüssige Seife sind ungeeignet. Eine Kommission der SMA hat angeordnet, daß Feinseife zur Verfügung gestellt wird. Um dem Auftreten von Fleckfieber, soweit es menschenmöglich ist, vorzubeugen, wird gefordert, daß täglich die in den Wohnbaracken Untergebrachten eingehend auf Läuse untersucht werden. Hierzu sind bei voller Belegung des Lagers mind. 10 Schwestern erforderlich. Drei stehen uns nur zur Verfügung. Die Beheizung der Wohnbaracken, sowie vor allen Dingen der sogenannten Lazarettbaracken ist mangelhaft. Sie wird noch schlechter, wenn Temperaturen unter Null eintreten werden.

Die Zugänge zu den Aborten sind stark verschmutzt. Infolge schlechter Bodenverhältnisse stehen seenartige Pfützen davor. Nachts finden viele den Weg nicht zu den Aborten, sondern verunreinigen die Umgebung der Wohnbaracken.

Die Müll- und Jaucheabfuhr ist jetzt in Gang gekommen. Bis vor kurzem lagen größere Haufen von faulendem Stroh und Küchenabfälle vor den Müllgruben. Erst jetzt wird es möglich sein, der Rattenplage durch Auslegen von Giftbrocken erfolgreich Einhalt zu gebieten.

Die Verhältnisse im Lazarett sind unhaltbar. Der Begriff "Lazarett" besteht nur dem Namen nach. Die Beheizung der Lazarettbaracken stößt täglich auf allergröß­te Schwierigkeiten. Es fehlen an vielen Stellen brauchbare Öfen. Die meisten noch vorhandenen Öfen sind reparaturbedürftig. In zwei Lazarettbaracken fehlt jede Deckenbeleuchtung. Zahlreiche Altersgebrechliche und Sieche verunreinigen täglich bis zu mehreren Malen die Bettwäsche mit Kot und Urin. Für eine Reinigung dieser stark verschmutzten Wäsche steht keine Wäscherei und kaum Seife zur Verfügung. Unsauberkeit ist die notwendige Folge. Die kühlere Jahreszeit wird eine größere Zahl von Infektionskrankheiten mit sich bringen, wie Grippe, Angina, Diphtherie und Scharlach. Grippekranke und andere Erkältungskrankheiten in mangelhaft beheizten Räumen zu behandeln wäre verantwortungslos. Immer und immer wieder haben wir an den zentralen Stellen darauf verwiesen, daß wir in der Lage sein müssen, Kranke in genügender Zahl nach den Krankenhäusern zu verlegen. Wir scheitern fast immer an der Aufnahmefähigkeit der im Umkreis zur Verfügung stehenden Krankenhäuser wie Bautzen, Bischofswerda, Wittichenau und Hoyerswerda. Offene Tuberkulosen gehören ins Krankenhaus. Sie können hier nicht behandelt werden. Tagtäglich vergehen viele Stunden kostbarer Zeit mit der Führung von Telefongesprächen, und im Endeffekt sind die Fälle doch nicht verlegbar. Wir weisen darauf hin, daß entsprechend den Anordnungen der SMA seuchenverdächtige Fälle zu hospitalisieren sind, also in Krankenhäusern untergebracht werden müssen. Die Isolierstationen sind lediglich Auffangstationen, aber keine Behandlungsstationen. Darauf muß ganz besonders energisch hingewiesen werden. Die mit dem 4.10.46 angekommenen ruhrverdächtigen Fälle konnten erst nach 23 Tagen - nämlich am 27.10.46 - nach Bischofswerda verlegt werden.

Die Versorgung des Lagers mit Medikamenten stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Nur der privaten Initiative der einzelnen Lagerärzte ist es zu verdanken, daß bisher aus einzelnen Stellen Sachsens genügend Medikamente herangeschafft werden konnten. Die Finanzverwaltung der Landesverwaltung hat uns mitgeteilt, daß die Kosten dieser Medikamente um Vieles höher sind, als das, was uns monatlich nach dem Haushaltsplan von zentraler Stelle aus zusteht.

Es ist ein großer Mangel, daß bei der Größe des Lagers, dessen Kapazität stets zwischen 12 - bis 15 000 angegeben wird, kein Apotheker vorhanden ist, dessen Arbeit praktisch der Chefarzt mit übernehmen muß.

Die Rückkehrer (aus der Sowjetunion) bleiben innerhalb des Lagers viel zu lange. Der Transport vom 4.10.46 ist bis heute nur zu einem kleineren Teil wieder abtransportiert worden. Das ist auf die Bestimmung zurückzuführen, daß nur jeweils 10 %, der Rückkehrer den Umsiedlertransporten beigefügt werden dürfen. Auch vom seuchentechnischen Standpunkt ist das höchst unzweckmäßig."