Erinnerungen deutscher Vertriebener aus Schlesien an das Lager Elsterhorst |
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Quelle: |
Erinnerungen von Herrn Horst Hähnel aus Reichenbach am Eulengebirge, 50 km von Breslau |
erschienen in "rausgeschmissen: 13 Erinnerungen an Flucht und Vertreibung" eine Dokumentation hrsg. vom Zeit-Geschichte(n) e.V. - Verein für erlebte Geschichte. - Halle, 2002 Homepage |
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"... . Unser Vieh – Hühner, Gänse, Enten und Ziegen – wurde so langsam weggeschlachtet. Es hieß, wir müßten bald raus! Oma, Opa, Tante und Onkel wurden schon ausgesiedelt. Jeder Deutsche durfte 50 kg Gepäck mitnehmen. Mit Tante, Onkel deren Kinder und Oma und Opa fiel es nicht auf, wenn mal ein paar Gramm darüber waren. Wir Geschwister begleiteten unsere Leute zum Bahnhof. Ein heilloses Durcheinander herrschte auf dem Bahnsteig. Es würde noch eine Weile dauern, sagte mein Opa, ehe der Zug losgeht. Mein Bruder und ich marschierten noch mal nach Hause in die Siedlung und holten einen Handwagen voll Bettzeug, denn in den kalten Güterwagen konnte man nicht genug zum Zudecken haben. Dies alles geschah Anfang 1946! Ende 1946, im Oktober, mußten wir packen. Drei beladene Handwagen standen abfahrbereit auf dem Weg vom Haus zur Gartentür. Mutter hatte Tränen in den Augen. Unser Vater hielt schon die Deichsel des ersten Wagens in der Hand und drängelt! „Nun kommt schon!“ Er sah fürchterlich mit seiner entzündeten Bartflechte aus. Mutter jammerte: „Keiner hat die schöne Nudelsuppe gegessen.“ Zum Abschied gab’s nämlich noch mal Nudelsuppe von der Brühe unserer letzten Gans. Wir zogen los! Vater zog einen Wagen, Mutter und ich einen, Schwester und Bruder den dritten. Im Hof des Waisenhauses fand eine große Handwagenversammlung statt. Wir alle mußten ins Haus – da wurden nochmal unsere Papiere kontrolliert, und dann ging es zur Entlausung! Das war lustig! Ein Ding, das wie ein Staubsauger aussah, mit dünner Spitze, steckte man uns in Ärmel und Nacken, und dann wurde die Maschine in Gang gesetzt, heraus kam ein weißes Pulver. Auch bei späteren Entlausungen mußte ich immer kichern. Es juckte so angenehm, wenn das Pulver an der Haut entlangspritzte. Auf dem Weg zum Bahnhof passierten wir eine Gartentür des Waisenhauses. Rechts und links stand je ein Pole und musterte uns gründlich. Ich kam an die Reihe! Ein Pole greift in meinen kleinen Rucksack, und weg waren die schöne Kanone und die Spielzeugsoldaten. Mutter pulverte den Polen an, wie könne er den Kindern das Spielzeug wegnehmen. Später, als ich selber Kinder hatte, kam bei mir kein Kriegsspielzeug. Heutzutage gibt es so etwas wieder in allen Varianten. Auch wir verfrachteten unsere Habe in Güterwagen. Die Kinder aus unserem Wagen wurden von den Eltern aufgefordert noch etwas spielen zu gehen. Wir wanderten in der Gegend des Bahnhofs herum und bewunderten den großen Haufen von leeren Handwagen und Karren. Den Grund, weswegen wir fernbleiben sollten, erfuhr ich erst 10 Jahre später – in den 50er Jahren. Unsere Väter bauten nämlich ein Versteck unter unserem Gepäck – ein Versteck für zwei Polen – zwei Nationalpolen. Ich, der Kleinste von uns Kindern, bekam den besten Platz im Güterwagen, ganz oben, auf dem Gepäckhaufen schlug ich mein Lager auf. Heute weiß ich, warum der Leichteste da hoch mußte. Die Fahrt wurde nur durch einige Entlausungen unterbrochen. Alle Leute kamen mit den Pulverspritzen dran. Unsere Eltern schauten dabei immer ängstlich in Richtung unseres Wagens. Die polnischen Wachposten kontrollierten den Zug – fanden aber nichts. Im Lager Elsterhorst bei Hoyerswerda endete der erste Abschnitt unserer Reise. Unter den Menschenmassen fielen die zwei Polen nicht weiter auf. Irgendwie hatte ich das Gefühl, der Zug hielt mitten im Freien. Ringsherum war flaches Land. Die Dampflok spendete uns warmes Wasser. Trotz des nebligen Oktobertages fand eine allgemeine Waschung statt. Auf Feldbahnloren, die wahrscheinlich für uns bereit standen, luden wir unsere Habe. Männer mit weißen Armbinden, auf denen neben russischen und polnischen Wörtern auch – Lagerleitung – stand, wiesen uns an, immer den Feldbahnschienen entlang zu gehen. An einer Ausweichstelle wartete eine flache Lore. Auf ihr stand ein Sarg. Zwei dürre Gestalten in heruntergekommenen Wehrmachtsuniformen starrten uns mit leerem Blick an. Ein russischer Wachposten mit MP daneben. Im Lager waren wir nicht allein. Gleich neben den Baracken stand ein Käfig voller Männer – deutsche Kriegsgefangene. Wir richteten uns in den Baracken ein. Unsere Familie bekam zwei Doppelstockbetten. Mutter hängte an die Seiten Decken und Laken, so waren wir ein bißchen für uns allein. Gleich anschließend an unsere Bettenstube ging es in den Waschraum und ins WC – Donnerbalkenausstattung. In dieser anheimelnden Umgebung feierten wir den 7. Oktober, den Geburtstag meiner Schwester – sie wurde 15 Jahre alt. Von irgendeiner Kaffeefirma hatte Mutter eine Blechbüchse aufgehoben. In dieser Büchse befand sich die kostbare Fracht von Spritzgebäck. Dieses Gebäck und der Rest Selbstgebrannter versprach eine ausgelassene Geburtstagsfeier. Bekannte und auch noch Verwandte aus unserer Siedlung feierten mit. Der 7. Oktober wurde in der DDR Nationalfeiertag. Meiner Schwester war es egal, denn einen Vorteil hatte sie daraus nie. Wir Kinder erkundeten das Lager und die Umgebung. Das Lager mußte in einer Wüste liegen, überall Sand. Die Herbstsonne sammelte noch mal ihre Kräfte, sodaß die Kinder barfuß laufen konnten. Der Sand erhitzte sich sofort. Oft schlichen wir um den Käfig herum. Die Männer darin standen oder lagen am Gitter oder auf Dreck. Die russischen Wachposten schäkerten mit uns Kindern. Ich hatte sowieso keine Angst, denn Russen waren mir vertraut. Unsere Väter beobachteten unser Herumlungern am Käfig. Mein Vater gab mir zwei selbstgedrehte Zigaretten. Er sagte mir, die eine wäre für den Posten, die andere für einen Gefangenen. Mein Vater mußte überirdische Kräfte gehabt haben, weil er den Zigarettenübergabeablauf vorhersehen konnte. Ich ging zu dem Russen, gab ihm eine Selbstgedrehte und zeigte mit der anderen Richtung Gitter. Der Posten nickte, steckte sich seine Zigarette in den Mund, zündete sie an und reichte das Feuer durch das Gitter, wo der deutsche Kriegsgefangene kräftig daran zog. Mein Opa erzählte uns Kindern einmal, im 1. Weltkrieg hätte es auch Situationen gegeben, bei denen Deutsche und Russen zusammen geraucht, ja, sogar gefeiert haben. Opa lag damals in einem Schützengraben in Litauen. Es war Weihnachtszeit! Der Kampf ruhte! Einige 100 Meter drüben sah man die Bajonette der auf und ab gehenden Posten. Denselben Anblick mußte der Feind – die Russen – auf deutscher Seite auch haben. Man schrie ein „Hallo“ hinüber; es kam ein „Hallo“ zurück. Eine Hand winkte – eine Hand winkte zurück. Ein Kopf ließ sich seh’n – ein Kopf schaute auf der Gegenseite raus. Ein Soldat kroch auf den Rand des Schützengrabens – auf der anderen Seite derselbe Vorgang. Zwei Feinde begegneten sich zwischen den Fronten. Man rauchte und tauschte Eßbares und Trinkbares aus. Tage später schoß man wie verrückt aufeinander. Unser Weitertransport stand bevor, alle wurden noch einmal entlaust. Am Ende der Barackenstraße lag das Sanitätsgebäude. In einem Raum traf sich alles Weibliche und in einem anderen alles Männliche. Kleinkinder bis zu zwei Jahren durften bei ihren Müttern bleiben. Wir mußten uns nackt ausziehen, dann wurden die Sachen in einen Ofen gesteckt. Man nannte das Desinfizieren! Der Raum machte einen unheimlichen Eindruck auf mich. Die Wände weiß gefliest, und überall Duschen an der Decke. Plötzlich schoß es aus den Brausedüsen. Vater legte schützend seine Arme um meinen Bruder und mich. Die Reinigungsbrühe klatschte auf unsere nackten Leiber. Abgetrocknet wurde nicht. Die Flüssigkeit mußte so an uns verdunsten. Als wir einigermaßen abgetropft waren, öffnete sich eine Tür, und alle stellten sich der Reihe nach an. Im Gänsemarsch ging es in ein Zimmer mit weißen Möbeln – ein Arztzimmer. Mit kritischen Blicken musterte man uns. Vater flüsterte: „Wenn das mal gut geht!?“ Seine Bartflechte heilte langsam ab – sehr langsam. An meinem rechten Zeigefinger blühte eine schöne Nagelbettentzündung. Außerdem hatte ich noch abklingende Krätze auf dem Handrücken. Meinem Bruder hatte die dreckige Zeit des Transports nichts ausgemacht. Der Mann mit der runden Nickelbrille schaute uns prüfend an. „Mhm...Mhm?“ brummte er. Wir wurden abgeklopft und abgehört – ein Klaps auf den Hintern und durch waren wir. Ein angenehmer Sonnenschein empfing uns, als wir das düstere Gebäude verließen. Die Fahrt ging weiter – nach Westen. Diesmal konnten wir im richtigen Reisezugwagen fahren. Es waren die Wagen mit den langen Trittbrettern an den Seiten und den vielen Türen. Wir Fünf belegten ein Abteil. Die Sachen verstauten wir am Boden und in den Gepäcknetzen, damit wir uns auf den Bänken mal so richtig langmachen konnten. Auf der Fahrt mußte nichts weiter passiert sein, denn meine Erinnerung setzt erst wieder bei dem Halt in einem großen Bahnhof ein. Wir stiegen aus und reckten unsere Glieder. Eine riesige Bahnhofshalle wölbte sich über unseren Köpfen. Bestimmt gehört der Bahnhof zu einer großen Stadt. Lesen konnte ich noch nicht richtig. Mutter sagte: „Wir sind in Leipzig!“ – Noch nie gehört! An einigen Feldküchen standen Leute mit Rot-Kreuz-Armbinden. Es gab eine mehlige Suppe. Nach der Abfütterung der Menschenmassen hieß es wieder „Einsteigen!“. Es ging also weiter. ..." |
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